Abschalten von der Klimakrise

Ein Phänomen ist zu beobachten: Je näher uns die Klimakrise rückt, desto mehr fällt sie auf der Prioritätenliste nach unten. Wie kann das sein?

Sichtbares Zeichen der Klimakrise: Niedrigwasser im Rhein
Niedrigwasser im Rhein Die Klimakrise vor Augen Foto: Markus Distelrath/Pixabay

Bruthitze, ausgedörrte Landschaften, tagelange Waldbrände, Niedrigwasser in vielen Flüssen wie dem Rhein – so hautnah wie in diesem Sommer spielte sich die Klimakrise vor den Augen der Deutschen noch nie ab. Es werden einst in den Tropen beheimate Insekten heimisch, zum Beispiel die Tigermücke, die gefährliche Krankheiten auslösen können: Dengue-Fieber, Gehirnhautentzündung, Zika-Fieber und viele mehr. Die Auswirkungen der sich beschleunigenden Erderhitzung wie Extremwetter sind kein fernes Ereignis mehr, sondern passieren direkt vor unserer Haustür.

Stell dir vor, die Klimakrise ist da, und niemanden stört sie mehr

Merkwürdig jedoch. Die öffentliche Reaktion auf den Ernstfall fällt reichlich verhalten aus. “Wo bleibt der Aufschrei”, wundert sich nicht nur der Taz-Redakteur Bernhard Pötter in einem Essay. Selbst die Fridays for Future-Bewegung lockt immer weniger Menschen zum lautstarken Protest auf die Straße. In abgewandelter Form ließe sich auch sagen: Stell die vor, die Klimakrise ist da, und niemanden stört sie mehr. Ganz offenbar fürchten die Deutschen viel mehr einen kalten Winter ohne hoch gedrehte Heizung.

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Eine aktuelle Umfrage des Versicherers Allianz unterfüttert den Befund. 57 Prozent der Bundesbürger sorgen sich demnach an erster Stelle um den Wert ihres Geldes wegen der hohen Inflation. Nur 37 Prozent hingegen halten die Rettung der Umwelt für das dringenste Problem (siehe Grafik unten). Mit ihren Prioritäten unterscheiden sich die Deutschen in dieser Hinsicht kaum von Franzosen und Italienern.

Inflation weit vor Umwelt - über welche Entwiclungen sich Deutsche, Franzosen und Italierner am meisten sorgen
Welche Entwicklungen Deutsche, Franzosen und Italiener am stärksten bedrücken Quelle: Allianz Pulse 2022

In der Politik sieht es ähnlich aus. Die Erschließung und Wiederbelebung fossiler Energiequellen beherrscht die Agenda der Regierenden, um sich aus der fatalen Abhängigkeit von russischem Öl und Gas zu befreien. Zwar schreit das Tempo, mit dem die globale Durchschnittstemperatur auf unserem Planeten steigt, nach unverzüglichem drastischen Handeln. Die ersten Kipppunkte, wie das rapide Wegschmelzen der Eisschilde an den Polen, sind nach neuesten Berechnungen der Klimaforscher praktisch schon erreicht. Dennoch wird die Klimarettung erst einmal vertagt.

Wetterextreme werden zum neuen Normal

Wie ist das Paradoxon zu erklären? Ein Ansatz wäre: Die meisten Menschen erleben Corona-Pandemie, explodierende Strom- und Gasrechnungen, steigende Lebensmittelpreise als existenzbedrohender als Hitze und Dürre. Selbst prinzipiell Engagierte kapitulieren vor der Flut schlechter Nachrichten und ziehen sich ermattet zurück.

Brigitte Knopf, Generalsekretärin der Berliner Klima-Denkfabrik MCC, geht sogar noch weiter. Sie befürchtet eine schleichende Anpassung in den Köpfen an den Klimawandel nach dem Motto: Wenn Wetterextreme von der Ausnahme zur Regel werden, empfinden die Menschen den Zustand als das neue Normal. Wissenschaftler sprechen von “shifting baselines”.

Selbsttäuschung und Ausreden statt entschiedenem Handeln

“Wir Menschen sind unglaublich anpassungsfähig”, zitiert Taz-Redakteur Pötter Gerd Rosenkranz, Leiter Grundsatzfragen beim Think Tank Agora Energiewende. Evolutionär gesehen habe diese Eigenschaft immer wieder das Überleben gesichert. Diesmal jedoch könnte sie der Menschheit auf die Füße fallen, schreibt Pötter. Statt die Katastrophe abzuwenden, würde sie verdrängt.

Der Psychologe Thomas Brudermann, Professor für Innovations- und Nachhaltigkeitsforschung an der Universität Graz, sieht in einem Interview des Kölner Stadt-Anzeigers weitere Verhaltensmuster am Werk – Selbsttäuschung und Ausreden. Wer Abfall trenne, kürzer dusche oder häufig Fahrrad fahre, sage sich: Ich tue doch schon was. Daher sei es in Ordnung, in den Urlaub nach Kalifornien oder Spanien zu fliegen, auch wenn dort gerade die Wälder lodern. Dass selbst lebenslanges individuelles Stromsparen keine Flugreise aufwiegt, will derjenige nicht wahrhaben.

“Fakten umzudeuten, sodass sie ins eigene Weltbild und zum Selbstwertgefühl passen, ist menschlich”

Psychologe Thomas Brudermann

Noch mehr teilt Brudermann gegen “Menschen mit reinem Gewissen” aus. Zum Beispiel solche, die als CO2-Ausgleich für ihren Flug ein paar Euro für das Pflanzen von Bäumen spenden. Dass dies keine wirkliche Kompensation sei, blendeten sie aus. “Der Mangel an Reflexion kann sehr schnell zur Gewissenslosigkeit führen”, rügt der Psychologe.

Aber wenn doch die Fakten so klar auf der Hand liegen, warum führt das nicht zum richtigen Handeln? Hier steht dem Menschen ein anderer psychologischer Mechanismus im Wege: die Gewohnheit. “Unsere Gehirne sind extrem effizient”, erläutert Brudermann. “Unsere Gewohnheiten zu überdenken wäre kognitiver Aufwand. Und diese Energie brauchen wir vielleicht später für etwas anderes.” Zudem sei es menschlich, “die Fakten umzudeuten, sodass sie ins eigene Weltbild und zum Selbstwertgefühl passen.”

Helfen könnte einer Art Zweckoptimismus

Hinzu kommt der Drang, die Probleme anderswo zu verorten und sich einzureden, es sei doch eh alles zu spät. Beliebtes Argument: Erstmal müssten die Chinesen aufhören, so viel Kohle zu verbrennen, und es müsste das Abholzen der Regenwälder gestoppt werden.

War’s das also, fügt sich die Menschheit schlicht in ihr Schicksal?

Als Ausweg, um doch noch zu einer kollektiven Gegenwehr zu kommen, bietet Brudermann den Aufbau positiver Emotionen an, eine Art Zweckoptimismus. Daran knüpft der Wissenschaftsautor Ulrich Eberl im Greenspotting-Interview an. Dem Fatalismus setzt er die Antriebskraft “guter und schnell umsetzbarer technologischer Lösungen” entgegen, hinter denen sich die Erdenbürger vereinen könnten. Solar und Wind statt Kohle und Gas, Elektromobilität, grüner Wasserstoff zum Beispiel. “Damit wären zwei Drittel des Wegs geschafft”, ermutigt Eberl.

Weg von der Verzichtsdiskussion

Überdies setzt auch der studierte Biophysiker auf einen psychologischen Kniff. Klimaverträgliche Verhaltensweisen will er positiv aufladen. Ein flott beschleunigendes Elektroauto anzuschaffen, sei ein Gewinn, meint er. Ebenso Strom solar selbst zu produzieren, statt ihn aus dem schmutzigen Braunkohle-Kraftwerk zu beziehen. Eberls Botschaft: “Die Verzichtsdiskussion ist unglücklich, denn sie bewirkt eher eine Abwehr, anstatt die Bereitschaft zu fördern, sich auf die neue Zukunft einzulassen.”

Bleibt abzuwarten, ob die Umdeutung wieder Schwung in den Kampf gegen die Klimakrise bringen kann.

Mehr: taz Allianz

Dieter Dürand

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