„Wie die Grünen das mit der Union hinbekommen wollen, ist mir schlicht ein Rätsel“

Der renommierte SPD-Umweltpolitiker Michael Müller geht hart mit den Grünen ins Gericht, kritisiert die einseitige Ausrichtung der Umweltpolitik auf Ausstiegs- und Verbotsfristen – und fordert ein Bündnis zwischen ökologischer und sozialer Bewegung.

Michael Müller, 72, gilt als Urgestein der Umweltbewegten und Linken in der SPD. Nach neun Jahren als Kommunalpolitiker in Düsseldorf gehörte der gebürtiger Sachsen-Anhaltiner von 1983 bis 2009 dem Deutschen Bundestag an und war von 2005 bis 2009 unter Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesumweltministerium. Einen Namen in der Umweltbewegung machte sich Müller durch seine Mitarbeit in verschiedenen Kommissionen, darunter von 1992 bis 1994 als Vorsitzender der Enquête-Kommission des Deutschen Bundestages zum Schutz des Menschen und der Umwelt, von 2011 und Juni 2013 als Sachverständiger der Enquête-Kommission Wachstum, Wohlstand, Lebensqualtität sowie 2014 bis 2016 als Co-Vorsitzender der Atommüll-Endlager-Kommission. Auf deren Empfehlung hin läuft gerade die Suche nach einem Endlager für den deutschen Atommüll. Aktuell ist Müller Vorsitzender der Naturfreunde, die aus der Arbeiterbewegung hervorgegangen sind (Foto: Olaf Kosinsky).

Herr Müller, die Grünen liegen in Umfragen aktuell vor CDU und CSU. Ist die Freude von Umweltschützern, dass die Grünen nach den Bundestagswahlen möglicherweise zusammen mit der Union die Bundesregierung bilden, noch steigerbar?

Ich teile die Freude über eine schwarz-grüne Machtoption nicht, und zwar in zweierlei Hinsicht nicht. Zum einen bin ich davon überzeugt, dass er Umbau nur gelingen kann, wenn es zu einem Bündnis zwischen sozialer und ökologischer Bewegung kommt. Zum anderen aus historischer Erfahrung. Als es zwischen 1998 und 2005 eine rot-grüne Bundesregierung gab, haben wir im Bundestag rund 20 wichtige umweltpolitische Maßnahmen beschlossen. Dazu zählten der Ausstieg aus der Atomenergie, ein neues Naturschutzgesetz, die ökologische Finanzreform, also die Verteuerung von Sprit, Strom, Heizöl und Erdgas zugunsten niedrigerer Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung, und das bekannte Erneuerbare-Energien-Gesetz. Diesem verdanken wir, dass Deutschland inzwischen rund die Hälfte seines Stroms klimaverträglich erzeugt. In all diesen Fragen hat die Union zum großen Teil unter der damaligen Fraktionsvorsitzenden und heutigen Bundeskanzlerin Angela Merkel dagegen gestimmt. Von der Union gab es nicht die geringste Bereitschaft, sich ökologischen Positionen zu öffnen.

Das war vor mehr als 15 Jahren. Angela Merkel hat als Kanzlerin zwar die Laufzeit der AKW zunächst verlängert, jedoch nach der Atomkatastrophe im japanischen Fukushima 2011 einen schnelleren Ausstieg aus der Kernkraft durchgedrückt als Rot-Grün. Zudem gibt in der CDU/CSU seit kurzem sogar eine „Klima-Union“, die für mehr Klimaschutz eintritt.

Unabhängig davon, dass das Ausstiegsdatum bei der Atomenergie gleich geblieben ist, prädestiniert sich die Union aber nicht als eine Partei, mit der die Grünen, so sie es wollten, die existenziellen Umweltprobleme der heutigen Zeit lösen könnten. Denn mit Blick auf die sich alarmierend zuspitzende Klimakrise ist die entscheidende Schlüsselfrage heute, ob die Ökologie zur Gesellschaftspolitik wird. Das heißt, dass sie mit sozialer Gerechtigkeit und mit mehr Demokratie verbunden wird, nicht etwa kompensatorisch, sondern strukturell. Wie die Grünen das mit der Union hinbekommen wollen, ist mir schlicht ein Rätsel.

Sind die Forderungen der Grünen nicht aber so dezidiert, zum Beispiel ein Kohleausstieg bis 2030 statt bis 2038, dass die Union sich diesen gar nicht mehr wird verweigern können?

Das sehe ich nicht so, denn es geht in erster Linie um politische Macht und da werden viele sehr biegsam. Die Grünen betreiben für mich leider oft ein Framing, wie man seit einiger Zeit sagt. Das heißt, sie setzen Begriffe und versuchen damit, die Diskussion auf einen bestimmten Pfad zu lenken. Das sind heute Ausstiegs- und Verbotsfristen. Schön und gut, aber wir brauchen den Pfad in eine sozial-ökologische Demokratie. Konkrete Antworten, wie sie das erreichen wollen und wer etwa die wirtschaftlichen und sozialen Folgen tragen soll, bleiben sie schuldig.

Es gibt in der Wirtschaft doch durchaus Bereiche, in denen ein Umdenken stattfindet. Finanzkonzerne schwenken langsam in Richtung Dekarbonisierung, Industrieunternehmen profitieren von grünen Geschäftsfeldern wie grünem Wasserstoff oder Windenergie. Und Firmen kündigen ihre Klimaneutralität in einigen Jahren an. Hat dies nicht auch in der Union die Bereitschaft erhöht, grüner zu werden?

Natürlich hat sich auch die Union ein wenig geändert, wobei ich vieles als reaktive Show ansehe, insbesondere was von den Unternehmen kommt. Alles nachhaltig und klimaneutral – tatsächlich oder? Der weltgrößte Vermögensverwalter Blackrock zum Beispiel propagiert zwar verbal die Dekarbonisierung, aber stimmt auf Aktionärsversammlungen in den allermeisten Fällen gegen Forderungen, Unternehmen sollten sich aus dem Geschäft mit der Kohle zurückziehen. Die entscheidende Frage der Zukunft bleibt, wie man die ökologische Krise lösen will.

Und wie sollte das Ihrer Ansicht geschehen?

Erstens muss die Politik dafür sorgen, dass die Ökologie ein unmittelbarer Bestandteil in der  wirtschaftlichen Entwicklung wird und nicht wie bisher End of Pipe im Marktprozess bleibt, wie dies heute vor allem durch den Neoliberalismus der Fall ist. Das heißt: Zuerst kommen Umsatz und Profit, und die daraus resultierenden Umweltprobleme werden gewissermaßen im Nachgang geheilt. Das führt auch zu einer immer stärkeren Machtkonzentration in der Wirtschaft sowie zu einer forcierten Lasten- und Einkommensumverteilung zu Lasten breiter Schichten, ob Arbeitnehmer oder kleine Selbstständige. Zweitens brauchen wir ein modernes Ordnungsrecht für alle endlichen Naturgüter, so wie es das – wenn auch unzureichend – für die Nutzung des Bodens gibt. Zudem: Nur wenn die Ökologie unmittelbar mit sozialer Gerechtigkeit verbunden wird, also nicht kompensatorisch, sondern strukturell, kann sie erfolgreich sein. Das sehe ich weder bei den Grünen noch bei der Union.

Elektroautos kommen langsam in Fahrt, die erneuerbaren Energien legen zu, bei Batterien für E-Autos laufen Versuche des Recyclings, eine neues Lieferkettengesetz erlegt zumindest Großunternehmen eine gewisse Verantwortung für ökologisches und soziales Fehlverhalten von Zulieferern etwa in Schwellenländern auf. Geht das nicht wenigstens in die Richtung, die Sie sich vorstellen?

Natürlich ist einiges vorangekommen. Aber es wurde bei weitem nicht das umgesetzt, was der Bundestag 1990 einstimmig zum Klimaschutz beschlossen hatte. Bei der Energiewende waren das drei Forderungen. An erster Stelle stand eine Effizienzrevolution, das heißt, durch die gezielte Steigerung der Energieproduktivität sollte der Energieverbrauch deutlich langsamer wachsen als die wirtschaftliche Leistung, sprich: das Bruttoinlandsprodukt. Zweitens ging es um gezieltes Einsparen von Ressourcen, also die sogenannte Suffizienz. Dabei stellt sich die Schlüsselfrage, wer das macht und vor allem zu wessen Lasten das geht, der breiten Bevölkerung oder der Hauptverursacher. Und drittens die Umstellung auf erneuerbare Energien. Wären alle drei Forderungen erfüllt worden, hätte das zu einer Reduzierung der klimaschädlichen Treibhausgase bis heute um 70 Prozent geführt.

Wer trägt die Schuld, dass es nicht dazu kam?

Ich finde es traurig, dass es der damalige Umweltminister Jürgen Trittin von den Grünen im Jahr 2002 war, der die Aufgabe dieses Konzeptes verkündet hat….

und die SPD unter ihrem damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder brav mitgemacht hat.

Es herrschte damals eine Arbeitsteilung vor, wie Bundeskanzler Gerhard Schröder immer wieder betont hat. Die Ökologie sei die Sache der Grünen, da sollten wir, auch die Umweltpolitiker der SPD, uns raus halten. Es gibt viele Beispiele, da waren die Umweltpolitiker der SPD, zu denen Ulrike Mehl, Monika Griefhahn, Hermann Scheer oder Ernst Ulrich von Weizsäcker gehörten, deutlich weiter als die Grünen, zum Beispiel beim Atomausstieg oder bei einer Kreislaufwirtschaft. Und bei der Öko-Steuer wollten wir auch einen Teil der Einnahmen gezielt in die ökologische Modernisierung der Infrastruktur lenken.

Hat die SPD nicht auch bis zuletzt immer wieder auf der Bremse gestanden? Sei es beim Kohleausstieg, wo sich die Partei vor den Karren der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie spannen ließ, oder bei der Umweltprämie auch für Plug-in-Hybrid-Autos, die viel mehr CO2 ausstoßen, als es die offiziellen Messmethoden weismachen?

Das ist so richtig wie falsch. Auch ich habe große Schwierigkeiten mit einer „grünen Technokratie“, denn die Umweltpolitik muss in einem Gesamtzusammenhang gesehen werden. Schon der Begriff Umweltpolitik ist eigentlich falsch, denn es geht um die Mitwelt. Und Naturverhältnisse sind auch Herrschaftsverhältnisse. Doch bis heute sind wir viel zu wenig zu einer gesellschaftlichen Einbindung der ökologischen Herausforderungen gekommen. Die Politik der Organisationen, die aus der Arbeiterbewegung entstanden sind, sähe ganz anders aus, hätten wir eine neue Fortschrittsidee, die von der sozial-ökologischen Gestaltung der heutigen Transformation ausgeht. Papst Franziskus hat in seiner Enzyklika Laudato Si‘ Recht, dass es nicht nur um eine ökologische Krise geht, sondern um eine Krise der Gesellschaft. Gute Politik erfordert, die Zusammenhänge zu sehen und zu berücksichtigen.

Der Klimaschutz ist inzwischen so vordringlich geworden, dass Stimmen lauter werden, die Rettung gelinge nur noch durch Verzicht – beim Ressourcenverbrauch wie beim Konsum vom Fleisch über Flugreisen bis zur Frischhaltefolie. Ist das nicht eine typische Forderung der Reichen und Saturierten und eine Ohrfeige für alle Geringverdiener, Hartz-4-Empfänger und erst recht die Armen oder gar Hungernden in den Entwicklungsländern?

Hier muss man ehrlich sein. Ja, wenn wir die Klimaziele erreichen wollen, wird es nicht ohne Verzicht gehen. Verzicht verstehe ich in einem grundsätzlichen Sinn, weil die Ressourcen unseres Planeten endlich sind und es zu einer „Humanökologie“ gehört, sie dauerhaft zu schützen. Wir überschreiten nämlich bereits planetarische Grenzen des Wachstums, was in den nächsten Jahren zu dramatischen Kipppunkten führen kann. Die entscheidende Frage wird sein, dass es bei der ökologischen Modernisierung sozial gerecht zugeht, sonst wird sie nicht funktionieren. Nur ein Beispiel: Ein Prozent der Weltbevölkerung ist für 15 Prozent der Treibhausgas-Emissionen verantwortlich, die achtzehn Prozent der Weltbevölkerung in Afrika sind nur für drei Prozent verantwortlich. Daraus wird klar, welche Teile der Weltbevölkerung verzichten müssen.

Aber auch bei denen gibt es Reiche und Arme, Nutznießer und Leidtragende.

Natürlich, das ist die Dramatik der globalen Klimakrise. Die Folgen werden noch eine längere Zeit auf dramatisch ungerechte Weise zeitlich, räumlich und sozial verteilt sein. Wenn wir zu einer ökologischen Wirtschaft kommen, müssen wir alles tun, um zu mehr Gerechtigkeit in den Verteilungsstrukturen zu kommen und um mehr Arbeitsplätze zu schaffen, damit die Zahl der Hartz-4-Empfänger massiv reduziert wird. Wir müssen uns auch für mehr Gerechtigkeit bei der Einkommens- und Vermögensverteilung einsetzen. Diese Fragen kommen in der Ökologiebewegung gegenwärtig zu kurz. Mehr Gleichheit und Gerechtigkeit sind für mich die Voraussetzung für ein erfolgreiches Umsteuern. Darum muss es in der gegenwärtigen Debatte gehen, auch und gerade im kommenden Bundestagswahlkampf.

Die gleiche Frage wie beim Verzicht stellt sich auch beim Wirtschaftswachstum: Ja oder nein, mehr oder weniger?

Ich halte die Diskussion pro oder contra Wachstum für falsch. Auf jeden Fall ist das Wachstum im bisherigen Sinne nicht haltbar. Aber ohne eine Entwicklung, die auch Veränderungen möglich macht, wird es auch keine Demokratie geben. Die entscheidende Frage ist eine andere. Ist der wirtschaftliche Produktions- und Reproduktionsprozess, also wie und was wir produzieren und konsumieren, nachhaltig? Schaffen wir den Umbau von Wachstum in eine sozial-ökologische Entwicklung? Oder orientieren wir uns weiter am bisherigen Paradigma: Wirtschaftliches Wachstum gleich Zunahme des Bruttoinlandsproduktes, des BIP, egal was hinter den Zahlen steckt, ob die Beseitigung von Umweltschäden oder ihre Vermeidung? Davon müssen wir weg…

und stattdessen was tun?

Bei jedem Mehr an Produktion und Konsum muss die Frage entschieden werden: Wäre das, bei heutigem Kenntnisstand, auch in 100 Jahren verantwortbar. Die Ansätze dazu gibt es, zum Beispiel in Form von Produkten, die nach dem Prinzip Cradle to Cradle hergestellt werden, das heißt, von der Wiege zur Wiege. Damit meint man, dass die Natur eine Art Wiege ist, der man Ressourcen so entnimmt und diese so bearbeitet, dass man sie ihr mit möglichst wenigen Verlusten und Schädigungen zurückgeben kann. So wird aus Wachstum ein Prozess der Entwicklung. Und das vor allem durch eine Solar- wie Kreislaufwirtschaft, die ihren Namen verdienen. Eine Kreislaufwirtschaft, wie das Kreislaufwirtschaftsgesetz und der Grüne Punkt sie vorgeben, ist keine.

Im Zentrum ist und bleibt jedoch fast immer der Energieverbrauch, oder?

So ist es. Die wichtigste Aufgabe der Menschheit, den Planeten zu retten, ist deshalb sowohl eine Effizienzrevolution bei der Wandlung und Nutzung von Energie als auch der weltweite Aufbau einer Solarwirtschaft. Denn die Sonne ist die unerschöpfliche Quelle alles Lebens und all unserer Energie auf der Erde, übrigens auch der fossilen Energie, die es ohne Sonne nicht geben würde. Insofern bin ich für die Nutzung der Sonnenenergie, für alles und wo immer das nur irgendwie geht. Und das muss verbunden werden mit ein er drastischen Reduktion des Energie- und Ressourceneinsatzes.

Das Interview führte Reinhold Böhmer

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