EU-Kommissionsvize Margrethe Vestager von den Liberalen wünscht sich eine volkseigene Cleantech-Industrie in Europa

Ausgerechnet EU-Kommissionsvize Margrethe Vestager von den dänischen Liberalen plädiert für eine staatliche Cleantech-Industrie in Europa – ein Offenbarungseid für die westliche Wirtschaftspolitik der vergangenen vier Jahrzehnte. Ein Kommentar von Reinhold Böhmer.

Solarzellen des chinesischen Herstellers Longi: Nach dem wirtschaftlichen Aufstieg Chinas mit seinem staatlich gelenkten Kapitalismus erwägt EU-Kommissionsvize Margrethe Vestager sogar staatliche Beteiligungen an Cleantech-Unternehmen in Europa (Foto: Longi)
Solarzellen des chinesischen Herstellers Longi: Nach dem wirtschaftlichen Aufstieg Chinas mit seinem staatlich gelenkten Kapitalismus erwägt EU-Kommissionsvize Margrethe Vestager sogar staatliche Beteiligungen an Cleantech-Unternehmen in Europa (Foto: Longi)

Es gibt Nachrichten, die – trotz oder wegen ihrer Brisanz – erst gar nicht aufgegriffen und verbreitet werden. Zu dieser Kathegorie gehört der Vorschlag der EU-Vizekommissarin Margrethe Vestager, den diese in einem Interview mit dem Handelsblatt am 9. Februar zur Cleantech-Branche machte. “Es ist wichtig, dass wir in andere Richtungen denken”, sagte die Dänin und holte sodann zu etwas bisher Unerhörtem aus. Um die Cleantech-Branche zu fördern, könne sie sich vorstellen, die “europäischen Steuerzahler zu Anteilseignern” von Unternehmen zu machen. Dadurch erhielten diese die Chance, vom Wachstum der Unternehmen profitieren.

Rückbesinnung auf VEB

Im Klartext: Der Staat solle sich an Unternehmen beteiligen, vielleicht sogar die Mehrheit an ihnen halten. Vestagers Vorschlag zu Ende gedacht, liefe letztlich auf die Schaffung mehr oder weniger volkseigener Betriebe hinaus, die es in Ostdeutschland zu Zeiten der DDR gab und die von den damals regierenden Staatssozialisten VEB genannt wurden. Und das von einer Politikern des liberalen Spektrums, die sich in ihrem Heimatland vor allem einen Namen gemacht hatte, indem sie Mitte des vergangenen Jahrzehnts die staatlichen Leistungen für Arbeitslose radikal kürzte.

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Höhepunkt der Heuchelei

Dass eine Politikerin wie Vestager auf einmal für die Schaffung volkseigener Betriebe plädiert, ist ein Offenbarungseid der westlichen Wirtschaftspolitik und der Höhepunkt der Heuchelei der vergangenen vier Jahrzehnte. Was predigten sie uns seit Anfang der 1980er Jahren nicht alle den freien Welthandel, die segensreichen Wirkungen des Markte und den Schaden, den staatlicher Eingriffe in die Entscheidungen privater Unternehmen per Definition verursachen würden. Zu den ersten Wortführern zählte der damalige US-Präsident Ronald Reagan, der damit eine gigantische Umverteilung von unten nach oben startete. Doch so lange das auch gewisse Vorteile für die einfachen Leute mit sich brachte, fraß auch das einfache Wahlvolk mehr oder weniger bereitweillig die Heilsversprechungen.

Willkommene Billigwaren aus China

Entscheidend zum Erfolg dieser Erzählung in den westlichen Gesellschaften trug die Ausnutzung billigster Arbeitskräfte in Schwellenländern bei. Sie machten die Einschnitte bei den staatlichen Sozialleistungen und die stagnierenden Löhne bei gleichzeitig explodierenden Profiten für die breite Masse der Bevölkerung einigermaßen erträglich. Immerhin gab es für kleines Geld immer mehr Waren made in Asia, die das Schrumpfen des eigenen Einkommen zumindest bremsten. Am meisten trug dazu China bei, das nach vielen Jahrhunderten der Isolation und Jahrzehnten der Abkopplung vom Weltmarkt einen Kapitalimus unter Beibehaltung des kommunistischen Staates ersann und dank seiner niedrigen Löhne zum Lieferanten aller erdenklichen Massenwaren zu höchst erschwinglichen Preisen wurde. Das Wort von der “Fabrik der Welt” war geboren und hob die Stimmung auf der anderen Seite des Globus. Die daraus erwachsende komfortable Stellung der westlichen Gesellschaften, sich von den Armen der Welt aushalten zu lassen, war für die hiesigen Chefideologen sogar der Beweis für die angebliche Überlegenheit des westlichen sogenannten liberalen Kapitalismus gegenüber dem vom Staat gelenkten Kapitalismus im Reich der Mitte.

Bedrohte Hegemonie

Allerdings war dieser Komfort, wie von den westlichen Politikern unter Führung der USA erhofft, nicht von Dauer. Zum einen avancierte der Klimawandel, hervorgerufen von der bisherigen Form des Wirtschaftens in den westlichen Staaten, immer weiter zu einer Bedrohung des gesamten Planeten. Zum andern wandelten sich die chinesischen Rackerer in rasendem Tempo zu Produzenten, die zunehmend mit den gleichen technologisch anspruchsvollen Produkten aufwarteten, die der Westen ihen bisher im Tausch gegen Billigwaren verkaufte. Die unangefochtene Alleinstellung, ja Hegemonie, des Okzidents schmolz dahin, aus dem treu ergebenen Billigheimer in Fernost wurde ein Konkurrent auf den Weltmärkten. Mehr noch: Ausgerechnet auf dem Gebiet umweltfreundlicher Technologien ist China, was den Betrieb, die Neuinstallation und die Produktion angeht, inzwischen weltweit Spitze. Und jetzt überlegt die Regierung sogar noch, die selbst entwickelte grüne Technik im Zweifelsfall für den klimafreundlichen Umbau des eigenen Landes zu behalten, statt sie billig in den Westen zu liefern. Welch eine Undankbarkeit!

Hochrüstung und Wirtschaftskrieg

Doch was fällt den bisherigen Verfechtern des freien Marktes und Staatshassern dazu ein? Die westliche Führungsmacht USA mit ihren aktuell rund 900 Militärbasen weltweit hat sich für Hochrüstung plus und den Abschied von allen bisherigen vermeintlichen Überlegenheitsmerkmalen ihres Wirtschaftssystems entschieden. Freier Handel – Schluss damit, wenn er den USA nichts nützt! Stattdessen traten US-Präsident Joe Biden und sein Vorgänger Donald Trump einen bisher nie dagewesenen Wirtschaftskrieg gegen China los, vor allem mit Sanktionen für Unternehmen, die zum Beispiel Chips an Firmen im Reich der Mitte liefern. Hinzu kommt die Ausgrenzung von Unternehmen, auch aus Deutschland, wenn diese diese nicht in den USA produzieren. Und galt der Staat noch eben als wirtschaftlicher Teufel, schmeißt die Regierung unter Joe Biden den Konzernen nun Geld hinterher, damit sie in den Vereinigten Staaten und nicht in Schwellenländern produzieren. Dass US-Konzerne gleichzeitig statt in Cleantech zu investieren zur Steigerung des Kurses für zig Milliarden Dollar eigene Aktien kaufen, weil sie nicht wissen, wohin mit ihren Profiten, ist nur noch ein letzter perverser Punkt auf das i für igittigitt.

Rechtfertigung von Privilegien

Vor diesem Hintergrund wirkt Vestagers Idee, der Staat könne ja via Subventionen zum Unternehmer werden, damit die Cleantech-Branche erstarke, wie ein unausgesprochenes, auf die Spitze getriebenes Eingeständnis: Was stört mich die Lobhudelei von gestern auf das freie Unternehmertum, den Kapitalismus und das staatsferne Wirtschaften, wenn sich zeigt, dass China mit seinen staatlich gesteuerten Unternehmen bei der Solarenergie, den Elektroautos und der Windenergie dem Rest der Welt enteilt? Wenn Vestager ehrlich wäre, müsste sie einzuräumen, dass die bisherigen Lehrsätze des Westens vom freien Handel im Kern vor allem der Legitimation der eigenen Privilegien dienten – und nun überholt sind.

Die ganze Chose, wenn sie nicht mehr richtig läuft, in die Hand des Volkes zu legen, wie Vestager es vorschlägt – dem deutschen Dramatiker und Meister des Sarkasmus, Bertholt Brecht, hätte es nicht besser einfallen können.

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