Marode Schweißnähte: Frankreichs Dauerärger mit dem Atompark

Von wegen zuverlässig: In den 56 französischen Reaktoren vermutet die französische Atombehörde ASN 320 verdächtige Schweißnähte. Steuert das Land wieder auf einen Sommer zu mit Massenausfällen im Atompark?

Kernkraftwerk Cruas in der Ardeche Frankreichs Atompark im Altersstress
Kernkraftwerk Cruas in der Ardeche Frankreichs Atompark im Altersstress (David ROUMANET/Pixabay)

Nach der Entdeckung eines Risses vn 15,5 Zentimeter Länge im Kernkraftwerk Penley im nordfranzösischen Petit-Caux Atompark muss der Betreiber EDF seinen gesamten Atompark auf mögliche Spannungsrisskorrosionen untersuchen. Dies ist eine Anweisung der Atombehörde ASN (Autorité de sûreté nucléaire). Der Defekt war bereits Ende Februar entdeckt und bekannt gemacht worden. Obgleich es sich um ein Notfallrohr handelt, dass im Ernstfall den Reaktorkern kühlt und trotz der Tiefe des Risses von 2,3 Zentimeter bei einer Wandstärke von nur 2,7 Zentimeter gab es zunächst keine Reaktion.

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Erst vergangene Woche reagierten Behörden, Politik und Öffentlichkeit auf den Defekt. Inzwischen gehen sowohl die Atombehörde wie auch die EDF davon aus, dass Risse dieser Art sich vor allem im Umfeld von Schweißreparaturen der Rohrleitungen ergeben. Die fragliche Stelle war bereits während des Baus zweimal repariert worden. Besorgniserregend ist, dass Penley nicht zu dem Methusalems unter Frankreichs AKW gehört, sondern erst seit 30 Jahren in Betrieb ist. Für die EDF bedeutet das, dass sie bei der Untersuchung der Schweißnähte keine Priorisierung nach Alter vornehmen kann. Junge Atomanlagen sind offensichtlich ebenso betroffen wie ältere Anlagen.

Für den ASN-Experten Yves Marignac stellt sich, angesichts der Tiefe und Länge des Risses, die Frage, ob die sechs Reaktoren des gleichen Typs bis zur ohnehin geplanten Überholung im Dezember überhaupt in Betrieb bleiben sollen. Weitere Risse waren in der vergangenen Woche in einem anderen Reaktor in Penley und in lothringischen Cattenom entdeckt worden.

Hundert Schweißer aus Amerika

Das Problem mit den Korrosionen an Rissen in Spannungzonen der Rohre ist für die EDF nicht neu. Bereits im Oktober des Jahres 2021 waren Mikrorisse entdeckt worden. Die EDF hatte in einer großangelegten Aktion die Verrohrung des gesamten Parks durchleuchtet und abgearbeitet. Dafür hatte der Monopolist sogar rund hundert Schweißspezialisten aus den USA einliegen lassen. Im Dezember vergangenen Jahres meinte die EDF, die wichtigsten Überprüfungen und Reparaturen erledigt zu haben und zu einem normalen Wartungszyklus zurückkehren zu können.

Mit der Anweisung der ASN nach den jüngsten Entdeckungen ändert sich alles. Bislang sind 320 reparierte – und folglich verdächtige – Schweißnähte identifiziert worden. 69 davon gelten als vorrangig für Überprüfung und Reparatur. Die EDF glaubt, bis Jahresende 2023 92 Prozent der fraglichen Schweißstellen kontrollieren zu können. Der Rest soll Anfang kommenden Jahr während ohnehin geplanter Abschaltungen geprüft werden.

Erneuerbare stützen altersschwachen Atompark

Die Zwischenfälle kommen für die EDF zur Unzeit. Bereits im vergangenen Jahr waren die Stromlieferungen der französischen Reaktoren auf nur 279 Terawattstunden gefallen, dem niedrigsten Stand seit 1988. Im heißen Sommer 2022 mussten mangels Kühlwasser 26 der 56 Reaktoren abgeschaltet werden. Die Pannen an der Verrohrung verschärften das Problem noch. Zum Glück konnten deutsche Versorger mit Lieferungen nachhaltig erzeugten Stroms aushelfen. Der kommende Sommer könnte schlimmer werden. Nach dem trockensten Winter seit 1959 sind Flüsse und Grundwasserreserven auf einem Tiefststand. In Kombination mit dem aktuellen technischen Notstand könnte der Mangel zu Abschaltungen führen.

Nationaler Kraftakt

Frankreich leidet unter seinen altersschwachen Kernanlagen. Das Land hatte ab den Siebzigerjahren in einem beispiellosen Kraftakt innerhalb von nur rund zwanzig Jahren seinen Atompark aus dem Boden gestampft. Ab der Jahrtausendwende freuten sich Frankreichs Politiker (und weite Teile der Bevölkerung) über den billigen Strom aus den weitgehend abgeschriebenen Anlagen. Dass auch Atomanlagen mit der Zeit marode werden, war in der nationalen Debatte kaum Thema. Gleichzeitig bediente sich das Finanzministerium an den Gewinnen der staatlichen EDF. Weder für gründliche Überholung und erst recht nicht für die Errichtung von Neuanlagen blieb Geld übrig.

Die wachsende Staatsverschuldung von inzwischen 114 Prozent des Bruttosozialproduktes blockiert die notwendigen Ausgaben für die Wartung. Ein umfassender Ersatz des alten Atomparks durch neue Anlagen ist angesichts der hohen Schulden und der gestiegenen Kosten für die Sicherheit von Kernkraftwerken kaum denkbar. Nur eine Anlage, der Druckwasserreaktor in Flamanville, ist zurzeit im Bau. Das Skandalprojekt sollte ursprünglich 2012 fertig werden. Statt der urprünglich veranschlagten Kosten von 3,3 Milliarden Euro wird die Anlage voraussichtlich 19 Milliarden Euro kosten.

Dennoch ist die Kernkraft in Frankreich weitgehend akzeptiert. Viele Franzosen betrachten Atomenergie als die französische Energie schlechthin. Der Umstieg auf erneuerbare Energien, möglicherweise sogar privat finanziert, ist unpopulär. Auch deshalb befindet sich Frankreich in einer energiepolitischen Doppelfalle aus Verschuldung und verfahrener Atompolitik.

Mehr: Le Monde; franceinfo

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