“Plastik richtet schon viel Schaden an, bevor es zu Müll wird”

Die Journalistin Jacqueline Goebel, die zusammen mit ihrem Kollegen Benedict Wermter das Buch “Plastiksucht” geschrieben hat, über die größten Irrtümer im Kampf gegen Plastik – vom Recycling über Papiertragetüten bis Ocean und Social Plastic.

Jacqueline Goebel, 33, ist Redakteurin im Ressort Blickpunkte der WirtschaftsWoche. Sie studierte Politik, Soziologie und Medienwissenschaften an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und hat zusammen mit dem Berliner Investigativjournalisten Benedict Wermter das Buch “Plastiksucht – Wie Konzerne Milliarden verdienen und uns abhängig machen“ geschrieben (Foto: Benedict Wermter)

Frau Goebel, die Ideen, Plastik zu vermeiden, sind mittlerweile Legende, sei es beim Einkauf, bei der Verpackung oder bei der Kleidung. Doch all die Aufrufe scheinen zu verhallen. Müsste man das Problem nicht viel grundsätzlicher angehen und den Müll generell reduzieren?

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Die Müllmengen zu senken, ist erstmal ein guter Ansatz. Aber die Plastikkrise wird viel zu oft auf das Müllproblem reduziert. Die Diskussion, die politischen Maßnahmen, drehen sich beinahe nur um die Plastikabfälle. Die Plastikkrise, ob im Meer, in der Umwelt, im menschlichen Körper, betrifft die Verwendung von Kunststoffen generell. Es geht um den Wertstoff selbst und die ganze Lieferkette von der Rohölgewinnung über die Produktion einschließlich der Zusatzstoffe bis zur Entsorgung mit Rückständen in der Natur und der Belastung der Atmosphäre. Zu glauben, dass sich die Plastikkrise lösen lässt, wenn wir nur das Müllproblem in den Griff bekommen, ist also der Irrtum bei der Plastikbekämpfung schlechthin.

Aber ein Großteil des Haushaltsmülls ist doch Plastik.

Ja, aber das Problem beim Plastik liegt nicht nur darin, dass es im Mülleimer oder, noch schlimmer, in der Umwelt landet, sondern beginnt mit der Produktion. Plastik wird heute zu 99 Prozent aus fossilen Rohstoffen produziert, mit den bekannten schlimmen Folgen für das Klima und die Umwelt. Es gibt massive Probleme bei der Nutzung von Plastik, bevor es im Abfall landet. Mikroplastik etwa in der Kleidung landet im menschlichen Körper, Zusatzstoffe gefährden die Gesundheit. Plastik richtet schon viel Schaden an, bevor es überhaupt zu Müll wird.

Wenn es dann aber so weit ist, stellt Recycling am Ende nicht den besten Weg dar, um Natur, Umwelt und Menschen wenigstens vom Plastik nach seiner Verwendung zu schützen?

Bevor man das beurteilt, muss klar sein: Recycling reduziert das Plastikaufkommen prinzipiell nicht. Wenn es darum geht, die Produktion neuen Plastiks zu vermeiden, wird Recycling leider sehr stark überschätzt. Wir haben in Deutschland seit 30 Jahren den Grünen Punkt, also Abgaben auf Verpackungen, um Recycling zu finanzieren. Die tatsächliche Wiederverwendung des gesammelten Plastiks ist jedoch sehr gering, gerade mal zwölf Prozent. Verschwindend klein ist der Anteil, bei dem aus einem Plastikprodukt wieder das gleiche Plastikprodukt wieder hergestellt wird. Der einzige Fall, in dem das in erkennbarem Maß funktioniert, ist die Plastikflasche.

Aber ist Plastik aus Recyclingmaterial nicht kostengünstiger als  Plastik aus fossilen Rohstoffen?

Nein. Das mag bei einigen Werkstoffen so sein, zum Beispiel bei Eisen und Aluminium. Aber Plastik aus Rohöl ist wesentlich kostengünstiger als Rezyklat. Für manche Rezyklate wird aktuell das Doppelte des Preises von Plastik aus Rohöl verlangt, die Nachfrage ist deshalb völlig eingebrochen. Recyclingfirmen fürchten um ihre Existenz. Das zeigt, Recycling von Plastik ist im Wesentlichen noch immer nicht wirtschaftlich.

Wie könnte man das ändern?

Das Problem liegt auch darin, dass es nicht das eine Plastik gibt. Wir sprechen von hunderten verschiedenenKunststoffen und zehntausend Zusatzstoffe, sogenannte Additive. Deshalb bräuchte man für jede Kunststoffart und auch für bestimmte Produkte ein eigenes Recyclingsystem. Das zeigt die ungeheure Aufgabe, vor dem das Recycling steht.

Das heißt, dass Recycling zu den größten Irrtümern gehört, den Plastikwahn auf diese Weise zu stoppen.

Wir können uns aus dieser Plastiksucht nicht herausrecyceln. Die Prognosen der OECD sagen, dass die Produktion von Plastik sich bis 2060 verdreifachen wird. Und der Verpackungssektor ist dabei ein wesentlicher Treiber. Wenn die Bevölkerung wächst, und wenn der Wohlstand zunimmt, dann steigt auch der Plastikverbrauch. Wenn wir auf eine Erdbevölkerung von zehn Milliarden zusteuern und mehr Menschen aus der Armut kommen, steigt der Plastikkonsum. Diese Entwicklung lässt sich nicht mit Recycling oder Plastiktütenverboten aufhalten. Plastiktüten sind nur ein ganz winziger Bruchteil der Plastikprodukte, ihr Verbot ist vor allem Symbolpolitik.

Papier statt Plastik, ist das nicht wenigstens ein kleiner Fortschritt?

Die meisten Studien haben gezeigt, dass Papiertüten nicht ökologischer oder klimafreundlicher sind als Plastiktüten. Jetzt könnte man sagen: Wenigstens gibt es dann kein Mikroplastik. Aber viele Verpackngnen und Tüten, die aussehen wie Papier, sind mit Plastik beschichtet oder bestehen sogar aus einem Mix. Also bleibt die Problematik. Und das beschichtete Papier kann dann nicht mal mehr mit dem Altpapier recycelt werden. Es ist kein Ausweg, bei einem Wegwerfprodukt wie einer Einmal-Tragetasche einfach das eine durch das andere Material zu ersetzen. Man müsste das ganze Produkt und seinen Nutzen überdenken.

Die Unternehmen machen immer wieder durch Selbstverpflichtungen von sich reden, auf Plastik zu verzichten oder sich eines anderen Umgangs damit zu befleißigen, sei es durch Wiederverwendung von Plastik in Kleidung oder als Verpackung. Zeigt das nicht, dass die Wirtschaft das Problem erkannt hat und handelt?

Die Erfolge solcher Initiativen waren bisher bestenfalls begrenzt. Versprechungen von Unternehmen, weniger Plastik einzusetzen, gibt es schon seit 30 Jahren. Passiert ist wenig. Coca-Cola etwa hat immer wieder angekündigt, einen bestimmten Anteil von Recyclingmaterial in seinen Flaschen einzusetzen, die Fristen wieder verschoben und die eigenen Zielmarken nie erreicht. Viele diese Initiativen muss man leider als versuchtes Greenwashing einstufen.

Der Sportartikelhersteller Adidas wirbt mit Schuhen, die angeblich Plastik enthalten, das aus dem Meer stammt, sogenanntes Ocean Plastic. Andere Unternehmen behaupten das von ihren Steckdosen oder ihren Kosmetikartikeln. Netter Gag oder anerkennenswerte Schritte gegen den Plastikwahn?

Weder noch. Unserer Ansicht nach ist das nichts anderes als Greenwashing. Der Begriff Ocean Plastic ist extrem irreführend. Denn die Praxis zeigt, dass das verwendete Plastik in den allerwenigsten Fällen aus dem Meer stammt. In der Regel steht dahinter die Idee, dass man am Strand oder in Dörfern nahe am Meer Plastik einsammelt, bevor es in die Fluten gelangt. Aber die Kunststoffe am Strand sind vom Salzwasser und von der Sonne angegriffen, die lassen sich gar nicht recyceln. Wenn etwas wirklich wiederverwendet wird, dann sind das meist nur die Plastikflaschen. Ähnlich fragwürdig ist die Werbung mit sogenannten Social Plastic, also eingesammeltem Plastik aus Ländern ohne Recyclingsysteme. Wer behauptet, damit einen Beitrag gegen die Plastikverschmutzung zu leisten, der irrt, um es freundlich zu formulieren. Denn diese Länder bräuchten im ganzen Land eine Entsorgung, nicht nur für die paar Flaschen aus dem Küstendorf.

Städte wie Düsseldorf oder Mainz und andere Kommunen veranstalte einmal im Jahr einen Dreck-weg-Tag, an dem Freiwillige Unrat aus dem öffentlichen Raum entfernen, darunter auch viel Plastik. Ist das nicht eine schöne Idee?

Generell sind solche Aktionen wichtig, weil sie uns zeigen, wie groß das Problem und wie riesig der Aufwand ist, die Folgen des Plastiks zu beseitigen. Man darf sich aber nichts vormachen: Das ins Grundwasser gelangte Mikroplastik, das Plastik im Bett der Flüsse, in den Sedimenten, all das bleibt auch nach einem Dreck-weg-Tag dort. Auch die Versuche von Start-ups, Plastik aus dem Meer zu fischen, sind zwar toll, gleichzeitig jedoch unfassbar teuer und somit keine langfristige Lösung. Das Geld hierfür wäre sicher besser in den Aufbau einer Müllabfuhr in den entsprechenden Ländern investiert.

Was ist vom sogenannten chemischen Recycling zu halten? Dahinter steckt ja die interessante Idee, man nehme Plastikmüll, zerlege die chemische Verbindungen in ihre ursprünglichen Bestandteile, also in ihre Rohölabkömmlinge, synthetisiere daraus neue Kunststoffe und wiederhole das Verfahren, nachdem der Kunststoff wieder aus dem Verkehr gezogen wurde.

Chemisches Recycling ist das große Versprechen der Industrie gegen den Plastikwahnsinn. Plastik als Rohstoff für neuen Plastik anstelle von Rohöl, das klingt erst mal vielversprechend. Doch die Sache hat gleich mehrere Haken.

Das wären?

Erstens steht der Beweis noch aus, dass dies im großen Maßstab funktioniert. Es gibt bisher nur kleine Anlagen im Labormaßstab. Zweitens weiß man noch überhaupt nicht, wie viel Energie Anlagen in großem Maßstab verschlingen werden. Drittens weiß man nicht, ob die Methode wirtschaftlicher ist als mechanisches Recycling. Viertens ist unbekannt, wie umweltfreundlich chemisches Recycling ist. Es gibt zu wenige Studien, die die CO2-Bilanz berechnen. Wenn es Studien gibt, dann sind sie wenig transparent, weil Unternehmen aus Gründen des Geschäftsgeheimnisses wichtige Daten zurückhalten. Und fünftens gibt es sogar Hinweise, dass chemisches Recycling möglicherweise eine schlechtere CO2-Bilanz aufweist als Plastik aus Rohöl.

Was ist dann der Ausweg aus dem Plastikwahn?

Der weltweite Plastikkonsum ist heute schon nicht mehr nachhaltig, er sprengt die planetaren Grenzen. Wir müssen diese Plastiksucht durchbrechen. Wohlstandswachstum darf nicht immer mit noch mehr Ressourcenverbrauch und Plastikmüll einhergehen. Den einen Ausweg gibt es wahrscheinlich nicht, denn wir müssten Produkte und ihren Nutzen und unsere Konsumgewohnheiten überdenken.  Wir stellen in unserem Buch zwölf Schritte vor, die dabei helfen könnten.

Das Interview führte Reinhold Böhmer

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