Nach langem Fingerhakeln einigen sich die EU-Energieminister auf ein neues Design für den Strommarkt. Was das für die Verbraucher bedeutet.
Von Portugal bis Polen ächzen Verbraucher unter hohen Energiekosten – ungeachtet von Preisbremsen wie in Deutschland. Auf Dauer sind solche Eingriffe nur ein Notbehelf. Darin sind sich die meisten Experten einig. Jetzt soll eine Strommarkt-Reform die Kunden zumindest vor allzu heftigen Preisausschlägen schützen. Darauf haben sie die EU-Energieminister verständigt. Stimmt das Europaparlament zu, kann die Reform in Kraft treten.
Strommarkt von den Gaspreisen entkoppeln
Wichtigster neuer Hebel ist die weitgehende Entkoppelung des Strom- vom Gaspreis. Bisher bestimmen die Produktionskosten des letzten zur Deckung der Nachfrage zugeschalteten Kraftwerks den Preis an den europäischen Strommärkten. Vor allem in Spitzenzeiten handelt es sich zumeist um ein besonders teures Gaskraftwerk. Günstiger Strom aus Wind- und Solarparks wird durch den Automatismus gleich teuer. Der Mechanismus wird abgeschafft, was die Strompreise tendenziell sinken lassen dürfte.
Die spanische Vizepräsidentin des EU-Rats, Teresa Ribera Rodríguez, lobt die Reform denn auch als großen Fortschritt. Sie verringere die Abhängigkeit des Strompreises von den erratischen Preisschwankungen der fossilen Brennstoffe Kohle, Öl und Erdgas. „Zugleich beschleunigen wir den Einsatz erneuerbarer Energien, die eine billigere und sauberere Energiequelle für unsere Bürger darstellen“, fügt Rodríguez hinzu.
Die neue Wunderwaffe: Differenzverträge
Um diesem Ziel rasch näher zu kommen, setzen die Energieminister auf ein neues Hauptinstrument: sogenannte Differenzverträge – Englisch: Contracts for Difference (CfD). Dahinter verbergen sich langfristige Verträge zwischen Regierungen und Stromproduzenten. Sie sehen vor, dass der Staat diesen die Differenz ausgleicht, sollte der Marktpreis unter den vereinbarten Preis fallen. Umgekehrt gilt: Erlösen die Energiekonzerne mehr, fließt der Überschuss an den Staat.
Schub für die Erneuerbaren
Der erhoffte doppelte Effekt der CfD: Investoren in Solarkraftwerke sowie in Windparks zu Land und auf dem Wasser erhalten eine zuverlässige Kalkulationsgrundlage für die Projekte. Zudem sichern die Verträge die Verbraucher gegen hoch schießende Strompreise ab.
Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) kommentiert die Wirkung der CfD so. „Sie verhindern, dass die Risiken niedriger Strompreise sozialisiert, die Profite hoher Strompreise aber privatisiert werden.“
Heftiges Gerangel über Atomkraft
Der jetzt gefundenen Einigung ging ein heftiges Gerangel zwischen Deutschland und Frankreich über die Rolle der Atomenergie im künftigen europäischen Strommarkt voraus. Unserer westlicher Nachbar, der mehr als Zweidrittel seiner Nettostromerzeugung aus der Kernspaltung gewinnt, bestand darauf, dass auch seine bestehenden 56 Atomreaktoren unter die Differenzverträge fallen können. Deutschland, das im April die letzten Meiler runtergefahren hat und im ersten Halbjahr 2023 fast 58 Prozent des Stroms aus erneuerbaren Quellen bezog (siehe Grafik unten), war strikt dagegen.
Sorge um Wettbewerbsverzerrung auf dem Strommarkt
Die Bundesregierung wollte allenfalls zustimmen, die Differenzverträge für neue Atomkraftwerke (Akw) zuzulassen. Den Durchbruch brachte eine Formulierung im Einigungstext, die offenbar viel Raum zur Interpretation bietet. Paris sieht darin einen Freibrief für den Einbezug seiner existierenden Akw. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck hingegen betont, durchgesetzt zu haben, dass die französische Seite zuvor den Nachweis erbringen müsse, dass der europäische Binnenmarkt daduch nicht gestört werde.
Demnächst hat das Europaparlament das Wort. Man darf gespannt sein, ob dessen Abgeordnete endgültige Klarheit in den Nachbarschaftsstreit bringen.
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