Atomkraft? Warum nicht!

Streckbetrieb, Laufzeitverlängerung, “Vernunft-Energie” – selbst eine Mehrheit der Grünen-Wähler ist nicht mehr strikt gegen Atomkraft. So viel Sinneswandel ist selten.

Klimaaktivistin Luisa Neubauer, hier auf einer Demo, offen für begrenzte Laufzeitverlängerung der Atomkraft
Klimaaktivisten um Luisa Neubauer (Mitte) Begrenzte Laufzeitverlängerung für Atomkraft wäre akzeptabel
Bild: Fridays for Future Deutschland

Ist es ein Sich-Fügen ins anscheinend Unvermeidbare, oder die Hoffnung, der neu entfachten Diskussion um eine Renaissance der Atomkraft die Spitze nehmen zu können? Selbst unter der Grünen, hervorgegangen aus der Anti-Atomkraft-Bewegung, und den Hardcore-Klimaaktivisten von Fridays for Future (FfF) bröckelt der Widerstand gegen die zumindest zeitweise Wiederbelebung der Kernenergie täglich ein wenig mehr.

Das Gefahrenpotential der Atomkraft ist nicht kleiner geworden

Wahrscheinlich eine Mischung aus beidem, folgt man der Argumentation von FfF-Frontfrau Luisa Neubauer. Sie kann sich mit einer auf wenige Monate begrenzten Laufzeitverlängerung der drei verbliebenen deutschen Atomkraftwerke (Akw) abfinden, dem sogenannten Streckbetrieb, auch wenn sie darin keinen Nutzen sieht. Der Gasverbrauch zur Stromgewinnung würde sich durch den Weiterbetrieb gerade einmal um ein Prozent verringern, verweist sie auf eine aktuelle Studie. “Das könnte man genauso gut durch Energiesparmaßnahmen erreichen”, sagt Neubauer.

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Völlig richtig. Warum dann die lahme Gegenwehr? Gilt nicht mehr, dass jeder Tag, an dem ein Akw Atome spaltet, das Risiko einer nuklearen Katastrophe birgt, wie immer mit Inbrunst vorgetragen?

Lieber Atomstrom als eine kalte Stube im Winter

Der Präsident des Bundesamtes für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung, Wolfram König, warnt davor, die Gefahren der Hochrisiko-Technologie Atomkraft plötzlich auf die leichte Schulter zu nehmen. “Die Reaktor-Katastrophen in Tschernobyl und Fukushima haben uns die Zerstörungskraft dieser Energieform gezeigt, und neue Bedrohungsszenarien in Form von kriegerischen Aktivitäten haben wir nahezu live in der Ukraine gerade miterleben müssen.”

Doch unter dem Eindruck explodierender Energiepreise und beinahe täglich neu beschworener Horrorszenarien von einem Winter ohne warme Stuben und mit Stromausfällen rücken solche Bedenken bei den Bundesbürgern in den Hintergrund. Das zeigt eine jüngste Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Insa. 70 Prozent plädieren demnach dafür, die Akw länger laufen zu lassen, um Deutschlands Energieunabhängigkeit zu stärken. Sogar 54 Prozent der Grünen-Wähler fänden das gut.

Das Pro-Atom-Trommelfeuer konservativer Kreise zeigt Wirkung

Das Pro-Atom-Trommelfeuer von “Bild” und konservativen Politiker zeigt offenbar Wirkung. Bayerns Ministerpräsident und Windkraft-Verhinderer Markus Söder übt sich wieder einmal besonders vehement im Positionswechsel. Assistiert von seinem Parteifreund, CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt (eine Entscheidung für die “Vernunft-Energie”), fordert Söder, die Laufzeiten der Akw bis mindestens Ende 2024 zu verlängern. Nach der Havarie der Reaktors in Fukushima 2011 wollte er noch zurücktreten, damals Umweltminister in Bayern, sollte der Ausstieg aus der Atomkraft erst nach 2022 stattfinden.

Zwist zwischen FDP und Grünen in der Ampelkoalition

Ähnlich dreist geht FDP-Chef Christian Lindner vor. Ausgerechnet er, der Rufe nach einem Tempolimit immer wieder aufs Neue mit Verweis auf seine Freiheitsdefinition abprallen lässt, ruft nach einem ideologiefreien Umgang mit der Atomkraft. Seinen grünen Kabinettskollegen Robert Habeck drängt er, “die sichere und klimafreundliche Kernenergie nötigensfalls bis 2024 zu nutzen”.

Grünen-Chefin Ricarda Lang kontert im ZDF-Sommerinterview, Atomkraft helfe im Hinblick auf fehlendes russisches Gas “nur ganz ganz wenig”. Und will wie ihr Parteifreund, Klima- und Wirtschaftsminister Habeck, schweren Herzens lieber den Kohleausstieg verschieben.

Atomstrom doppelt so teuer wie Windenergie

Rückendeckung erhält Lang von der Energieökonomin Claudia Kemfert vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin. “Atomenergie ist keine Zukunftstechnologie, sondern teuer, unsicher, zeitaufwändig und gefährlich”, bilanziert Kemfert. Die Baukosten neuer Akw etwa in Finnland und Frankreich hätten sich mindestens verdreifacht. Und sollte der Großmeiler in Flamanville in der Bretagne einmal ans Netz gehen, kostet sein Strom mit bis zu zwölf Cent je Kilowattstunde mehr als doppelt so viel wie heutiger Windstrom. Das hat der französische Rechnungshof ausgerechnet.

So sieht Klimaaktivistin Neubauer hinter der angezettelte Debatte denn auch ganz andere Motive. Dabei gehe es “um die Verhinderung einer echten Energiewende weg von Kohle, Gas, Öl und Atom“, ist sie überzeugt. So viel Klarheit muss – bei allen Zugeständnissen – sein.

Mehr: taz Berliner Zeitung watson

Dieter Dürand

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