Wie Spekulanten Hunger und Krieg auslösen

Spekulanten an den Rohstoffmärkten stürzen die Welt ins Chaos und verantworten viele aktuelle Krisen. Davon ist der Harvard-Soziologe Rupert Russell überzeugt.

Landarbeiterinnen bei der Weizenernte - Spekulanten sorgen für Preischaos
Landarbeiterinnen bei der Weizenernte Spekulanten treiben die Preise für Lebensmittel ‘Bild: lueluet/Pixabay

Extreme Armut und Hunger bis 2030 auszurotten, lautet ein Milleniumsziel der Vereinten Nationen (UN). Es wird mit ziemlicher Sicherheit verfehlt werden. Im Gegenteil: Die Not wächst, mit ihr zugleich die soziale Ungleichheit. Allein 2020 rutschten 70 Millionen Menschen in die extreme Armut. Insgesamt kämpfen weltweit 719 Millionen Menschen mit weniger als 2,15 US-Dollar am Tag um ihre nackte Existenz. So steht es in einer gerade veröffentlichten Studie der Weltbank. Titel: Poverty and shared Prosperity 2022.

Spekulanten sind die Urheber vieler gegenwärtiger Krisen

Besserung ist nicht in Sicht. “Der Fortschritt bei der Bekämpfung extremer Armut ist im Wesentlichen zum Stillstand gekommen”, konstatiert Weltbank-Präsident David Malpass. Die Schuld für die Entwicklung schiebt er der Corona-Pandemie in die Schuhe. Höheren Mächten also.

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Beim Havard-Soziologen und Dokumentarfilmer Rupert Russell stößt diese Interpretation auf heftigen Widerspruch. In seinem Buch “Price Wars” benennt er eine ganz andere gemeinsame Ursache für viele der sich gegenwärtig überlappenden Krisen: Kriege, Hunger, Brexit. Spekulanten an den Rohstoffmärkten stürzten die Welt ins Chaos, Computer-Algorithmen verstärkten das Durcheinander durch Fehlinterpretationen noch.

“Das Chaos beginnt an den Finanzmärkten und verwandelt lokale Krisen in globale Ereignisse mit steigenden Rohstoffpreisen”

Soziologe Rupert Russell

“Das Chaos beginnt an den Finanzmärkten und verwandelt lokale kleine Krisen in globale Ereignisse mit steigenden Rohstoffpreisen. Dabei können Rohstoffpreise eine Gesellschaft unglaublich stark erschüttern”, erläutert Russell seine Theorie in einem ausführlichen Interview mit dem englischen “Guardian”.

Zur Illustration zieht er eine gerade Linie von steigenden Brotpreisen, die 2010 den Arabischen Frühling auslösten mit unzähligen Unruhen und Bürgerkriegen, bis zum Brexit. Diese Ereignisse hätten zu einer nie dagewesenen Flüchtlingswelle geführt. Aus Sorge, davon hinweg geschwemmt zu werden, habe eine Mehrheit der Briten am Ende für den Austritt aus der EU gestimmt, so die Kurzform.

Im ökonomischen Lehrbuch treiben Knappheiten die Preise. Doch waren Weizen und anderes Getreide 2010 in Wirklichkeit ausreichend vorhanden. Nicht Mangel, sondern Termingeschäfte von Spekulanten steckten laut Russell hinter dem Preisanstieg und der unheilvollen Kettenreaktion. Ein ähnliches Spiel wiederholt sich gerade im Zuge des Kriegs in der Ukraine. Auch dieses Mal ist das Angebot ausreichend groß und kann die Preiskapriolen nicht erklären.

Ähnliche Vorgänge beschreibt Russell für den Ölmarkt. Wenn in irgendeinem Ölförderland ein Konflikt ausbricht, setzen Spekulanten sofort auf kletternde Preise. Und solche Konflikte gibt es reichlich. Ein wesentlicher Effekt dieser inszenierten Marktübertreibungen: Sie füllen die Kriegskasse vieler Despoten, aktuell die des russischen Präsidenten Wladimir Putin. “Tatsächlich werden Ölstaaten-Regime gestärkt, Dinge zu tun, die sie immer schon tun wollten, aber sich vorher nicht leisten konnten”, sagt der Soziologe.

Algorithmen entkoppeln Preise von der Realität

Ein unheilvolle Rolle, Preise von der Realität abzukoppeln, spielen Russell zufolge Algorithmen, die den Börsenhandel mit sekundenschnellen Entscheidungen immer stärker beeinflussen. Wenn er verstehen wolle, zu welchen Absurditäten die Anleitungen mitunter führten, solle er sich folgendes Beispiel ansehen, rieten ihm Finanzspekulanten: Den Zusammenhang zwischen Meldungen über die US-Schauspielerin Anne Hathaway und dem Aktienkurs des US-Firmenkonglomerats Berkshire Hathaway.

Die Algorithmen können zwar zwischen positiven und negativen Nachrichten unterscheiden, nicht jedoch zwischen der Hollywood-Diva und dem Unternehmen. Die Folge: Füllt ihr neuester Film die Kinokassen, springt der Börsenwert des Unternehmens in die Höhe. Umgekehrt fiel er rapide, als sie in einen Autounfall verwickelt war.

Clintons Deregulierung verwandelte die Rohstoffmärkte in ein Kasino

Russell datiert die Ablösung des Finanzsektors von der realen Ökonomie und seine Verwandlung in eine “Chaos-Maschine” ins Jahr 2000. Damals habe US-Präsident Bill Clinton (It’s the economy, stupid”) die bis dahin relativ streng reguliereten Rohstoffmärkte für Öl, Weizen, Metalle und Kaffee per Gesetz von den strengen Auflagen befreit. Die neue Zügellosigkeit, so der Wissenschaftler, lockte nicht nur wie beabsichtigt jede Menge Kapital an, sondern überdies Scharen von Spekulanten. Sie hätten die Rohstoffmärkte in “Kasinos” verwandelt mit wilden Preispitzen und -einbrüchen.

Weltbank erwärmt sich für Vermögensteuer

Diesem verhängnisvollen Treiben Grenzen zu setzen, darauf gehen die Weltbank-Ökonomen in ihrer Studie wenig überraschend nicht ein. Dafür empfehlen sie erstmals in dieser Deutlichkeit die Abkehr von einer Fiskalpolitik, die vor allem den Wohlhabenden die Taschen kräftig füllt. Die wichtigsten Vorschläge: Energiesubventionen streichen, weil sie am meisten den Besserverdienenden zugute kommen. Dafür Bargeldzahlungen an die Armen.

Und sogar für höhere Einkommensteuern und die Erhebung einer Vermögensteuer können sich die Weltbanker erwärmen. Ein geradezu revolutionäres Gedankengut für den langjährigen Hort überzeugter Marktliberaler.

Mehr: worldbank guardian faz

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